Internationaler Frauentag: In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?

Im Europaparlament steht der Frauentag dieses Jahr ganz im Zeichen von Frauen und Mädchen auf der Flucht. Im Plenum des Europaparlaments wird heute ein alarmierender Bericht zur Situation von weiblichen Flüchtlingen und AsylwerberInnen in der EU behandelt: 55% der Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, sind Frauen und Kinder. Berichten zufolge werden viele von ihnen zu Opfern sexueller Gewalt oder sind zur Prostitution gezwungen, um Schlepper für ihre Weiterreise nach Europa zu bezahlen. Legale Fluchtrouten in die EU gibt es bekannterweise nicht.

Wenn wir heute hören, dass das allgemeine Wahlrecht für Frauen in Italien erst 1946 eingeführt wurde oder dass in den USA Frauen bis 1974 Kreditkarten in vielen Fällen nur mit Erlaubnis ihres Mannes beantragen konnten, dann erscheint uns das mehr als überholt und eigentlich unglaublich. Und tatsächlich: einige Jahrzehnte lang hat sich in der Gleichstellung von Frauen viel getan, unter anderem auch durch die Gleichbehandlungsrichtlinien der EU zum Diskriminierungsverbot am Arbeitsmarkt. Doch derzeit geht der Prozess nur schleppend voran. Dabei gibt es noch mehr als genug zu tun. Von einer tatsächlichen Gleichstellung von Frau und Mann sind wir nämlich weit entfernt, die europaweite Wirtschaftskrise hat die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern sogar weiter verschärft.

Gleiches Einkommen: ein Wunschtraum. Gemeinsame Haushaltsführung: eine Illusion. Verpflichtende Väterkarenz in allen EU-Staaten: vom Tisch. Frauen in Führungspositionen: eine Seltenheit. Doch gerade diese Dinge sollte die Mehrheit unserer Gesellschaft längst als Normalität wahrnehmen, alles andere als altmodisch und nicht zeitgemäß abtun. Doch die Entwicklung geht derzeit – auch auf EU-Ebene – in eine ganz andere Richtung. Die Juncker-Kommission hat es nicht einmal geschafft, eine neue Gleichstellungsstrategie vorzulegen, trotz Forderung des Europaparlaments und des Rates. Der Entwurf zur Mutterschutz-Richtlinie wurde aus Kostengründen endgültig zurückgezogen und auch die Regelung für Frauenquoten in Aufsichtsräten – seit Jahren in der Debatte – hängt derzeit am seidenen Faden: ausgerechnet Deutschland sträubt sich dagegen und die slowakische Ratspräsidentschaft nächstes Halbjahr macht ebenfalls keine Anstalten, der Frauenpolitik einen angemessenen Stellenwert einzuräumen.

Seit der Veröffentlichung einer Studie durch die Grundrechteagentur 2014 wissen wir: Europa hat ein massives Problem mit sexueller Gewalt. Eine repräsentative Umfrage unter 42.000 Frauen in Europa zeigt, dass sexuelle und/oder physische Gewalt gegen Frauen in allen Lebensbereichen – zu Hause, in der Arbeit, in der Öffentlichkeit oder auch im Internet – für viele Frauen traurige Alltags-Realität ist. Ein Drittel aller Frauen zwischen 15 und 74 Jahren geben an, Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt geworden zu sein. Das entspricht 62 Millionen Frauen. Auch hier war die EU bisher säumig. Erst gestern haben wir erfahren, dass die Kommission endlich die Ratifizierung der Istanbul-Konvention durch die EU angehen will, eine langjährige Forderung der Grünen. Das hätte sie aber schon längst mit viel Engagement vorantreiben können. Österreich hat die verbindliche Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt 2013 ratifiziert, doch ein Großteil der EU-Staaten noch nicht.

Dann kam die Silvesternacht 2015 mit den Übergriffen in Köln und anderen deutschsprachigen Städten und plötzlich wurde die Diskussion über sexuelle Gewalt von rechten TrittbrettfahrerInnen, denen die Debatte gerade recht kam und die das Thema sexuelle Gewalt bisher nie interessiert hatte, plötzlich vereinnahmt. Warum: weil sie die Schuld für sexuelle Gewalt bequem den Zuwanderern zuschieben können statt sprichwörtlich vor der eigenen Haustür zu kehren. Wir haben uns gemeinsam mit Frauenorganisationen vehement gegen diesen einseitigen Missbrauch der Debatte gewehrt und auch gegen die an vergangene Jahrhunderte erinnernde ungustiöse Opfer-Täter-Umkehr: Verhaltensregeln für Frauen („nicht in der Nacht alleine ausgehen“), Kleidervorschriften für Frauen („Miniröcke verlocken halt schon….“), vermeintliche Präventionstipps von Frauen für Frauen („Eine Armeslänge abstand halten“) – ansonsten dürfe man sich ja nicht wundern, zum Freiwild zu werden. In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?